Heinrich steht auf dem Tisch und kräht. „Genau, sag’ ihnen die Meinung – sie sollen sich alle benehmen hier auf dem Hof!“, ruft Anita Buchwald, 89, und lacht. Tatsächlich sieht es im Demenzbereich des Domizils Weimar an diesem Vormittag ein wenig aus wie auf dem Bauernhof. Auf den Tischen tummeln sich Hahn Heinrich, Huhn, Stallhase, Kaninchen und Meerschweinchen auf einer dicken Schicht frischen Grases. Rund ein Dutzend Bewohner sitzt im Kreis um „ihren“ kleinen Hof.
„Die therapeutische Unterstützung durch Tiere hilft, körperliche und geistige Fähigkeiten zu fördern und zu erhalten“, sagt Direktorin Yvonne Massalsky, 41. „Speziell bei Menschen mit Demenz tragen sie zu mehr Lebensfreude und -qualität bei.“ Einmal im Monat lädt das Haus daher Katrin und Frank Jacob mit den Tieren von ihrem Erlebnishof ein.
„Bewohner mit Demenz leben – besonders im fortgeschrittenen Stadium – in ihrer eigenen, verschlossenen Welt“, sagt die Pädagogin und Tiertherapeutin Katrin Jacob, 51. „Tiere sind Brückenbauer zwischen den Welten.“ So sieht es auch Ergotherapeutin Anke Bergmann, 32, die gemeinsam mit zwei Kolleginnen den Tierbesuch vorbereitet und begleitet: „Durch den Kontakt zu den Tieren sind die Bewohner gelöster, sie öffnen sich, nehmen die Umgebung wieder bewusster wahr, fangen an zu sprechen. Sie freuen sich.“
Während Anita Buchwald beherzt jedes Tier in ihrer Nähe mit den Händen greift und streichelt, klopft Walter Lege, 97, nur sanft mit dem Zeigefinger auf den Tisch, um das graue Kaninchen anzulocken. Als das Tier ein paar neugierige Schritte auf ihn zu macht, entspannt sich seine bis dahin reglose Miene und er lächelt.
Das Eis am Bauernhof-Tisch ist schnell gebrochen. Wo vorher Stille war, plaudern die Bewohner munter – mit den Tieren, den Eheleuten Jacob, dem Pflegepersonal, untereinander; über die Tiere, über sich selbst, über längst vergangene Zeiten. „Tiere fördern soziale Beziehungen und die Kommunikationsfähigkeit“, kommentiert Anke Bergmann das Offensichtliche.
Die Stimmung am Tisch ist entspannt. Das Streicheln des weichen Fells regt nachweislich die Endorphine im Gehirn an. Diese verringern das Schmerzempfinden und bauen Stress ab. Irmgard Kötschau, 87, hat häufig Stress. Die früher sehr aktive Frau ist oft unruhig, marschiert los, um etwas zu tun, ohne zu wissen, was genau es sein wird. An diesem Vormittag bleibt sie sitzen, bis das letzte Tier wieder in seiner Box ist.„Eine Aufmerksamkeitsspanne von über einer Stunde ist extrem viel für die Bewohner“, sagt Anke Bergmann.
Genau umgekehrt verhält es sich bei Liselotte Micklausch, 87. Seit Tagen war sie am Leben völlig desinteressiert. Das meiste davon verschlief sie. Jetzt ist sie hellwach, und jedes Stück Fell oder Feder, das sie erhascht, möchte sie entzückt kaum mehr loslassen. „Mit einer solchen Reaktion hätte ich nie gerechnet. Das ist ein echtes Gänsehautgefühl“, sagt Anke Bergmann berührt. „Diese Öffnung nach außen ist einer der wichtigsten Erfolge der Therapie.“ Die Wirkung der Tiere, „wertfrei“ den Menschen so zu begegnen, wie sie gerade sind, hilft dem Pflegepersonal. Denn das Prinzip der Wertschätzung und Anerkennung – in der Fachsprache Validation – ist einer der Eckpfeiler der professionellen Betreuung. „Der Umgang mit desorientierten alten Menschen bedeutet, nach Möglichkeiten zu suchen, miteinander zu kommunizieren – mit Worten, Gesten, Blickkontakt und Berührungen“, betont die Ergotherapeutin.
„Die Tiere helfen uns“, ergänzt Direktorin Yvonne Massalsky, „sie verstärken das Gefühl der Geborgenheit – da gehen die Herzen auf.“